Die türkische Zivilgesellschaft hat ein wichtiges Lebenszeichen entsandt. In einer gemeinsamen Pressekonferenz in Ankara trafen sich unter anderem Menschenrechtsorganisationen, um die Foltervorwürfe gegen ehemalige Geheimdienstmitarbeiter und weitere Beamte anzuprangern.
BOLD – Mit den Parteineugründungen in der Türkei hat sich scheinbar mehr verändert, als bisher vermutet. Während politische und zivilgesellschaftliche Strukturen in den letzten zwei bis drei Jahren eher verstummten, weil sie den Druck der türkischen Regierung befürchteten, trauen sich mehr und mehr Personen sowie Organisationen wieder an die Öffentlichkeit. Die neuen Parteien und ihre starken Führerpersönlichkeiten haben die Hemmschwelle offenbar wieder auf einen eher normalen Pegel gezogen. Denn in Ankara kam es nun zu einer eher ungewöhnlichen Offensive zivilgesellschaftlicher Akteure. Acht Vereine für Menschenrechte und unabhängige Justiz kamen zusammen, um gegen die Foltervorwürfe gegen ehemalige Bedienstete des türkischen Geheimdienstes MIT und des Amtes des Ministerpräsidenten zu protestieren.
Diese Akteure haben eine gemeinsame Pressekonferenz gegen die Foltervorwürfe im Polizeipräsidium in Ankara organisiert: Menschenrechtsverein (Türkisch: İnsan Hakları Derneği Ankara / IHD), Ärztekammer Ankara (Türkisch: Ankara Tabip Odası / ATO), Verein Juristen für die Freiheit Ankara (Türkisch: Özgürlük İçin Hukukçular Derneği / ÖHD), Verein zeitgenössische Juristen Ankara (Türkisch: Çağdaş Hukukçular Derneği / ÇHD), Verein Initiative Recht (Türkisch: Hak İnisiyatifi Derneği), Föderation 78er Revolutionäre (Türkisch: Devrimci 78’liler Federasyonu), Verein Tagesordnung Menschenrechte (Türkisch: İnsan Hakları Gündemi Derneği), Gewerkschaft der Mitarbeiter im Gesundheits- und Sozialwesen Ankara (Türkisch: Sağlık ve Sosyal Hizmet Emekçileri Sendikası / SES), Stiftung Menschenrechte in der Türkei (Türkisch: Türkiye İnsan Hakları Vakfı / TIHV). Die Konferenz wurde durch die Teilnahme von Abgeordneten und Gewerkschaften unterstützt. Darunter der stellvertretende Parlamentspräsident Mithat Sancar (HDP) sowie die zwei Abgeordneten der pro-kurdischen Partei “HDP” Ömer Faruk Gergerlioğlu und Hasan Özgüneş. Die Verkündung der gemeinsamen Botschaft machte Nuray Çevirmen, Vorstandsmitglied des Menschenrechtsvereins IHD.
In ihrer Rede erinnerte Çevirmen an die Foltervorwürfe gegen 46 ehemalige Mitarbeiter des türkischen Außenministeriums. Dabei ging es um die Verhaftung von Mitarbeitern, die in der Amtszeit Ahmet Davutoğlus als Außenminister der Türkei eingestellt wurden. Diese Maßnahme wurde von Experten und Kennern der türkischen Politik als Einschüchterungsversuch gegenüber Davutoğlu bewertet. Man habe versucht die Gründung einer Partei von Davutoğlu zu verhindern. Zu diesen Foltervorwürfen habe es “keine Stellungnahme des Innenministeriums oder anderer betroffener Institutionen gegeben”, obwohl diese Vorwürfe eine breite Öffentlichkeit erlangt hätten, so Çevirmen weiter.
100 Personen gefoltert
Laut Nuray Çevirmen vom Verein für Menschenrechte wurde durch die Anträge von Familienmitgliedern der im Februar 2019 entführten sieben Personen bekannt, dass die festgenommenen Personen Opfer von schwerer Folter und Misshandlung geworden sind. “Wie durch die Bekanntmachung des HDP Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu vom 26. Mai 2019 bekannt wurde, sind 100 per Dekrete entlassene ehemalige Mitarbeiter des Außenministeriums im Präsidium für Finanzverbrechen in Untersuchungshaft gehalten, gefoltert und zur Unterzeichnung von vorgefertigten Aussagen gezwungen worden”, so die Menschenrechtsaktivistin. Doch diese Vorwürfe seien abgelehnt worden. Es handele sich um normale und ordentliche Prozeduren, hieß es aus öffentlichen Stellen.
“Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen”
Im Verlauf hat Çevirmen von den registrierten Folter- und Misshandlungsfällen in 2019 gesprochen. Laut den Zahlen der Stiftung Menschenrechte in der Türkei (TIHV) haben 840 Personen Misshandlung und Folter beanstandet. Die Zahlen des Vereins für Menschenrechte weiche nur gering davon ab. Die IHD zählte in den ersten 11 Monaten von 2019 830 Fälle, somit zehn weniger als die TIHV. Doch die Verantwortlichen würden in keinem Fall in Rechenschaft gezogen, so Çevirmen. Es erfolgten in den Fällen keine ernsthaften Ermittlungen, die Verantwortlichen bekamen keine Strafen. “Die Politik der Straflosigkeit bei Fällen von Folter und Misshandlung muss beendet, die Verantwortlichen bestraft werden. Die ärztlichen Untersuchungen müssen dem Istanbuler Protokoll entsprechen. Die Türkei muss sich ohne Wenn und Aber an die Verträge halten, die Folter und Misshandlungen verbieten. Folter muss verhindert werden. Die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung muss in diesen Fällen ihre Aufgabe lückenlos erfüllen.” Man sei entschlossen Maßnahmen und Methoden, die die menschliche Würde verletzen, vehement zu bekämpfen. Diese gemeinsame Presseerklärung sei ein Zeichen für diese Entschlossenheit.
Gergerlioğlu: “Es muss etwas getan werden”
Der HDP Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu sagte, dass er die Vorwürfe von Folter und Misshandlung konsequent verfolge, mit den Anwälten der Betroffenen spreche und so sehr detaillierte Auskünfte erlange, die er entschlossen ins türkische Parlament trage. Die verantwortlichen Ministerien hätten in ihren Antworten stets in Frage gestellt, ob die “Verbreitung von Foltervorwürfen via Twitter” irgendetwas Belegen würde. Laut Gergerlioğlu steige die Zahl von Folter in der Türkei. “Dagegen muss etwas getan werden”, so der HDP-Abgeordnete.
Özgüneş fordert große Unterstützung
Der HDP-Politiker Özgüneş machte seine Kampfbereitschaft deutlich: “Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir müssen mit einer möglichst großen Teilnahme dagegen kämpfen, um diese Mentalität zu verändern. Koste es was es wolle. Wenn wir stark sind, können wir es schaffen” so Özgüneş weiter.
Politiker: Die Peiniger werden vor Gericht gestellt
Der stellvertretende Vorsitzende der türkischen Nationalversammlung Mithat Sancar kritisierte die Folterzustände in der Türkei. Folter sei der größte Angriff gegen die Menschenwürde, so Sancar. “Jene, die Folter als eine Politik wahrnehmen, sollten gut wissen, dass jeder, der sich an der Folter beteiligt, früher oder später vor Gericht gestellt wird. Solange mindestens eine einzige Person die Folterzustände kritisiert, wird ihnen der Schlaf vergehen. Ihre Angst muss größer werden. Das können wir nur durch unseren effizienten Kampf schaffen.”, so der pro-kurdische Parlamentarier.
Was war passiert?
Am 18. Dezember wurde gegen 27 Personen ein Festnahmebefehl erteilt. In der offiziellen Erklärung hieß es, dass es sich bei den Personen um ehemalige Mitarbeiter des Ministerpräsidentenamtes handelt, die allesamt im Ausnahmezustand per Dekret entlassen worden waren. Der Vorwurf lautet wie so oft, Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation.
Später zeigten allerdings Recherchen von Bold, dass es sich bei den festgenommenen Personen um ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes MIT handelt. Insgesamt wurden 18 der gesuchten 27 Personen festgenommen. Wie Bold berichtete gab es wieder einmal Foltervorwürfe. Demnach sollen mindestens sieben Personen damit bedroht worden sein, mit Flaschen vergewaltigt zu werden. Mindestens zwei der Inhaftierten sollen bereits geprügelt worden sein. Die Anwaltskammer hatte nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe sofort reagiert und mit den Betroffenen gesprochen.