In der Türkei bahnen sich große Veränderungen in der politischen Landschaft an. Vergessen geglaubte Politiker kehren zurück, neue Parteien werden gegründet und Abgeordnete der AKP treten aus der Partei aus. Die Regierung gerät zunehmend unter Druck.
BOLD — Bereits im September trat der AKP Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu in einem Online Interview der Plattform T24 auf und brachte die Gemüter innerhalb der AKP durcheinander. Für einen AKP-Mann ungewöhnlich offen, selbstkritisch und reflektiert, schien Yeneroğlu sich im Geiste bereits von der AKP verabschiedet zu haben. So kam das, was unvermeidbar wurde. Auf Wunsch von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan trat Mustafa Yeneroğlu aus der AKP aus, genauso wie er auf speziellen Wunsch des Präsidenten Mitglied und Abgeordneter der AKP wurde. Nur kurze Zeit darauf gründete Ahmet Davutoğlu, ehemaliger Weggefährte des türkischen Präsidenten, einstiger Außenminister, erster AKP Ministerpräsident nach Erdoğan, seine eigene “Partei der Zukunft”, auf Türkisch “Gelecek” Partei. Bereits vor der Verkündung wurde spekuliert, dass Yeneroğlu einer der ersten Kandidaten sein könnte, der von der AKP zum neuen Ufer der konservativen türkischen Politik wechseln wird.
Yeneroğlu spricht von einem “Tyrann-Staat”
In einem Interview bei Medyascope trat Yeneroğlu erstmals nach seinem Parteiaustritt aus der AKP auf und wurde nochmal deutlicher mit seiner Kritik. Er sprach von einem schwachen türkischen Staat mit tyrannischen Zügen. Der Islam leide unter der Art und Weise, wie die Regierung das Land regiere. Denn durch die derzeitige Politik produziere der Staat mehr Opfer und Ungläubige, als die Putschisten vom 28. Februar. Dies sei auf Aussagen von Vertretern der konservativen Mehrheit zurückzuführen, die sich mit ihrer Kritik an den mittlerweile parteilosen Abgeordneten wenden würden. Außerdem sieht Yeneroğlu Zeiten kommen, in denen viele Mitglieder der AKP, bzw. der derzeitigen Regierung sich aus der Verantwortung ziehen werden. Doch auch sich selbst ziehe er nicht aus der Verantwortung, denn sie seien Verantwortlich für diesen “Albtraum”. Es ginge Yeneroğlu nicht um eine Reinwaschung, wie es ihm Kritiker seines Sinneswandels unterstellen. Auch als ehemaliger-AKP´ler sei er sich seiner Fehler bewusst. Politiker der Regierung und auch politische Journalisten werfen Yeneroğlu billigen Pragmatismus vor. Er habe begriffen, dass die AKP möglicherweise zugrunde geht. Mit den neuen Parteien wolle er seine politische Karriere retten und seinen eigenen Wechsel vorbereiten.
BOLD übersetzt Auszüge von Yeneroğlus Aussagen
“Ich sage das nicht, um mich selbst rein zu waschen. Im Gegenteil. Ich sehe Zeiten näherrücken, in denen sich sehr viele Urheber dieser heutigen Misere „auf blöd stellen“ und behaupten werden: „haben wir nicht gesehen, wussten wir nicht“. In dieser Situation würde ich einen Schritt vortreten und eingestehen: „Ja, ich bin mitverantwortlich für diesen Albtraum“. Weil wir haben diesen Albtraum erschaffen.”
“Derzeitige Parteien haben nichts mehr zu bieten!”
“In 2023 werden ca. fünf Millionen Wähler Neuwähler sein. Dass ein Großteil der türkischen Jugend heute Angst hat, darüber flüstern wir mit Kollegen untereinander. Sie sagen, dass sie Angst davor haben, ihre Meinung kundzutun und sie sehen ihre Zukunft nicht in der Türkei, sondern im Ausland. In dieser Atmosphäre hat die derzeitige Politik, haben die gegebenen Parteien diesen Leuten leider kaum noch etwas zu bieten.”
“In der Türkei gibt es Folter und Entführungen”
In diesem Land gibt es Folter. In diesem Land werden Menschen entführt. Ich gucke mir internationale Rankings an; glauben Sie mir, wenn ich das sage, schließe ich mich nicht von der AKP aus. Auch heute schließe ich mich nicht aus, denn wir sind, das sage ich in meinem Namen, Mittäter. Das sage ich aus moralischer Perspektive. Warum? Weil wir unsere Stimmen nicht ausreichend erhoben haben. Ich habe immer dagegen protestiert, aber ich denke nicht, dass das ausreichend war. Meinen Brüdern hätte all das auch zustoßen können. Also sind diese Dinge den Leuten zugestoßen, die nicht so denken wie ich. Heute ist aus der islamischen Bewegung kein einziger Ahmet Altan hervorgegangen. Keine einzige islamische Autorität in diesem Land hat wie Ahmet Altan unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Haft seine Stimme erhoben, um zu sagen: „Ich kenne die Gefängnisse, habe das erlebt. Solange die Ungerechtigkeit fortgeführt wird, werde ich dieselben Sachen wiederholen, ich werde weiter gegen euch kämpfen!“ Das ist für mich ein großer Schmerz. Das will ich noch gesagt haben.
“In der Türkei geschehen unvorstellbare Grausamkeiten”
Ich denke, dass sie sich nicht über das Ausmaß der Katastrophe im Klaren sind. Ich glaube sie erkennen nicht, dass sie in einem Tunnel stecken, an dessen Ende kein Licht zu sehen ist. Sie sehen den Anderen nicht. Sehen Sie, das ist das Hauptproblem. Ich sage, in diesem Land werden Menschen entführt. In diesem Land werden Menschen gefoltert. In diesem Land werden Hunderttausende Menschen mit der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation beschuldigt. Und in diesem Land geschehen unglaubliche, unvorstellbare Grausamkeiten. Das ist sehr eindeutig, tut mir leid. Wir werden für alles in Rechenschaft gezogen werden. Genauso wie wir jeden Tag durch unser Gewissen in Rechenschaft gezogen werden, oder zu Hause in die Gesichter unserer Kinder blicken, werden wir eines Tages vor Gott zur Rechenschaft gezogen werden. Jedenfalls gilt diese Devise für die Gläubigen und ich Glaube an ein Jenseits. Wenn die anderen Glaubenden nicht danach handeln, wo wollen wir dann hin? Wenn sie nicht sehen, wie die Würde der Menschen mit den Füßen getreten werden. „Ja, wir könnten die Strukturen etwas verändern. Wir könnten die Vetternwirtschaft etwas vermindern.“ Wir haben diese Grenzen schon längst überschritten. Die Türkei ist weit über diesem Horizont.
“Die Türkei ist ein autoritäres Regime”
Die Türkei ist in einem sehr erweiterten Stadium eines autoritären Regimes angelangt. Die nächste Phase ist ein kritischer Zeitraum, in der die Türkei großen Gefahren gegenübersteht. Ich will in keinem Land wie Russland leben. Es tut mir leid, ich möchte in keinem Land wie die Turkstaaten leben. Ich will in einem freien Land leben. Ich will diese Freiheit auch in meinen Worten leben dürfen. Wenn Freiheit bedeutet, apolitisch zu sein, dann will ich in so einem Land nicht leben. Lassen sie uns die Jugendlichen fragen, ob sie in der Türkei oder woanders leben wollen. Keiner will in Saudi Arabien leben. Die Leute wollen lieber im Westen leben. Auch Menschen aus meiner Community, aus meiner Gesellschaft müssen ernsthaft in den Spiegel schauen und einmal aufrichtig darüber reflektieren. Die Schuld ist sehr groß, die Verlegenheit ist sehr groß, aber noch größer ist die Angst. Die Leute fürchten zur Zielscheibe gemacht zu werden.
“Wen interessieren schon Reformen im Recht?”
Als ich im Parlament Vorsitzender der Kommission für Menschenrechte war – die Rede ist von Ende 2015, 2016 – habe ich nahezu 100 Strafanzeigen gestellt. Zuletzt habe ich festgestellt, dass in keinem Fall ernsthafte Ermittlungen stattgefunden haben. In was für einem Rechtsstaat leben wir eigentlich? Ich meine Folter und Misshandlungen. Und dann sagt man, wir wollen in diesem Land Reformen bezüglich Menschenrechten und der Justiz machen. Diese Reformen interessieren doch niemanden.
“Es gibt kein Versammlungsrecht mehr”
Viele konservative Personen, die damals den 28. Februar erlebt haben, sagen zu mir: „Tut uns leid, aber damals hatten wir das Recht zu demonstrieren. Damals konnten wir an den Universitäten noch unsere Stimme erheben. All das gibt es heute nicht mehr.“ Es gibt kein Versammlungsrecht mehr, keine Pressefreiheit, keine Meinungsfreiheit mehr. All das müssen wir sehen. Und besonders die Mehrheit von 65-70 Prozent dieser Bevölkerung muss diese Tatsache sehen.
“Wir leben in einer Atmosphäre von Zombies”
Die Menschen wurden narkotisiert, tut mir leid für diese Ausdrucksweise; wir leben in einer Atmosphäre von Zombies. Unserer Bevölkerung wurde mittels Serien und Erzählungen eingetrichtert, dass die ganze Welt, der Westen und die Außenmächte usw. unsere Feinde sind. Es gibt recht merkwürdige Serien. Da lässt Sultan Abdülhamid Abgeordnete durch Kriminelle hinrichten und so weiter. Als wäre all das normal. Immer in Zusammenhang mit der osmanischen Geschichte, mit Erzählungen des immer Starken, immer Rechtschaffenen, aber der gleichzeitig jeden Tag Blut vergießt, warum auch immer. Sie haben keine Ahnung davon, was sie in der Bevölkerung mit dieser Ideologie anrichten. Sie bauen keine denkende und auch keine hinterfragende und kritisierende Gesellschaft auf. Und aus dieser Situation kann kein gesellschaftlicher Frieden hervorgehen, kein Wohlstand, keine Solidarität. Hieraus kann ausschließlich eine hasserfüllte Jugend hervorgehen. Derzeit haben wir eine Bevölkerung, die gegeneinander mit großem Hass aufgeladen ist. Welches Milieu auch immer. In diesem Land wachsen Menschen auf, die gegeneinander Bösartiges aushecken. Wir müssen das verhindern.
“Islamische Bewegung völlig entkernt”
Was in den 80er und 90er Jahren an islamischer Bewegung an den Tag gelegt wurde, ist heute vollständig entkernt. Heute herrscht ein nationalistischer Chauvinismus im Gewand der Religion. Heute ist die islamische Bewegung in der Türkei wegen dieser Herangehensweise aufgelöst. Das kann ich deutlich sagen.
“Der türkische Staat ist schwach und hat tyrannische Züge”
Außerdem gibt es in der Türkei auch keinen starken Staat. In der Türkei gibt es einen äußerst schwachen, einen de Facto nicht existierenden Staat. Der türkische Staat hat tyrannische Züge, aber der Staat ist nicht stark. Sie hat keine Verwaltungsstruktur. Es ist völlig entkernt. Um Wohlstand und Freiheit langfristig zu sichern, braucht es neben einem starken Staat, eine starke aktive Gesellschaft, ein starkes Parlament, starke zivilgesellschaftliche Bewegungen, starke Medien, die richtige Nachrichten erzeugen und gleichzeitig starke Gewerkschaften. Sowas gibt es in der Türkei nicht. In so einem Land ist es unmöglich ein demokratisches System, eine demokratische Kultur zu entwickeln. Das ist der Kern der Sache.
“Heute verteidigen uns Totalitaristen wie Perinçek”
“Denn die Menschen möchten die Wahrheiten nicht erkennen. Sie wollen die Wahrheit nicht sehen, oder sie verleugnen es. Weil sie Angst haben, nicht zur Zielscheibe werden wollen, oder weil sie eigene Interessen haben. Wenn mein älterer Bruder Generaldirektor, mein jüngerer Bruder Abteilungsleiter, meine Frau leitende Bankangestellte wäre, hätte ich auch diese Sorgen.
Heute verteidigen uns Leute wie Doğu Perinçek. In was für einer Welt leben wir eigentlich. Totalitäre Weltanschauungen. Und diese Leute schämen sich dafür. Diejenigen, die die größte Angst haben, sind auch diejenigen, die am lautesten schreien. Ich bin nicht der, der die größte Angst hat. Wer mehr schreit als ich, trägt die größte Furcht in sich.”