Die Türkei verfügt über eine starkes Militär und 250.000 Polizisten. Doch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gründet ein neues Machtinstrument zum direkten Einsatz auf den Straßen. Diese Gruppe soll mit braunen Uniformen ausgestattet und als “Wächter” (Bekçi) bezeichnet werden.
Nach Angaben des europäischen Statistikinstituts “Eurostat” sind die Zahlen der Polizisten in Europa um 3,4 prozent gesunken. Die Türkei hingegen legt einen gegensätzlichen Trend an den Tag. Im Gegenzug zu europäischen Staaten ist die Zahl an Sicherheitskräften in dem Land um 26 Prozent gestiegen. Daneben gibt es in der Türkei die Gendarmerie, die mit 176. 000 Kräften im ländlichen Raum für Ordnung und Recht sorgen soll.
Diese Zahlen bestätigen die häufige Kritik gegen den türkischen Präsidenten, er würde die Türkei in einen “Polizeistaat” verwandeln. Doch damit ist nicht genug, denn die “Wächter” sollen nun hinzukommen. Die braun uniformierten Sicherheitskräfte haben keine Zentrale oder kein eigenes Gebäude. Diese Einheiten patroullieren in Zweier- und in Vierergruppen den ganzen Tag auf den Straßen. Mit dem jüngsten Gesetzesentwurf dürfen diese Personen Waffen benutzen, Personenkontrollen durchführen und Personen abtasten.
Iran dient als Beispiel
Der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, und Erdoğans ehemaliger Sicherheitsberater Adnan Tanrıverdi sollen hinter dieser neuen Truppe stecken. Beide Personen sind ursprüngliche Militärsangehörige und gehören zu Erdoğans engsten Vertrauten. Zwar ist Adnan Tanrıverdi zuletzt aus “Altersgründen” zurückgetreten, doch Experten sehen in ihm eine Schattenfigur, der auch im Hintergrund das türkische Militär lenkt.
Fidan hingegen wird mit dem zuletzt durch die USA getöteten iranischen Generals Qasem Soleimani verglichen. Der Geheimdienstchef wird beschuldigt im Syrienkrieg bewaffnete Milizen gegründet und Methoden von Soleimani zu Eigen gemacht zu haben.
Auch fällt auf, dass die “Wächter” starke Ähnlichkeiten zum iranischen Pendanten Basidsch-e Mostaz (kurz: Basidschi) aufweisen. Diese als inoffizielle Hilfspolizei eingesetzte paramilitärische Miliz des Iran besteht aus Freiwilligen.
Seit einigen Jahren sind die starken Eingriffe von Präsident Erdoğan Top-Thema in der Türkei. Diese Maßnahme wird als weiterer Eingriff in das Leben der türkischen Bevölkerung betrachtet. Zudem spekulieren Experten türkischer Innenpolitik, mit dieser neuen Macht auf den Straßen mögliche Unruhen und Demonstrationen früh zu verhindern. Großes Potential für solche Unruhen birgt die schlechte Lage der türkischen Wirtschaft und Menschenrechte.
Die türkische Opposition befürchtet, dass Erdoğan alternative Sicherheitskräfte erzeugt, um sich vor einem möglichen Umsturzversuch zu schützen. Dies zeigt, dass Erdoğan seinen eigenen Behörden nicht mehr vertraut. Somit möchte er seine eigene Kraft aus treuen Fanatikern etablieren, so die Vermutung der Opposition.
Der stellvertretende Vorsitzende der Oppositionsfraktion “Iyi Parti”, Lütfü Türkkan, vergleicht die Wächter mit den “Braunhemden” aus der Weimarer Republik. Der Begriff Braunhemden wurde als Synonym für die paramilitärische Kampforganisation SA der NSDAP während der Weimarer Republik genutzt und spielte eine Art “Ordnertruppe” eine wichtige Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten.
Türkkan sagt, dass das Vorhaben bezüglich Wächtern “eine an das Jahr 2020 angepasste Version der Sturmabteilung des Nazi-Deutschland” sein soll. Auch die größte Oppositionspartei CHP ist gegen das Gesetz und hat bereits offiziellen Widerspruch eingelegt, weil sie in der Bewaffnung der Wächter ein enormes Sicherheitsrisiko sieht.
Züheyla Gülüm, Abgeordnete der prokurdischen HDP, glaubt, dass die AKP-Regierung mit dem Wächter-System ein Netzwerk aufzubauen versucht, worüber möglichst viele Informationen eingeholt werden sollen. “Mit diesem Netzwerk versucht man einen Mechanismus aufzubauen, der einen Druck auf die ganze Bevölkerung ausüben soll. Die Regierung will sich in die Lebensweisen der Menschen einmischen”, sagt Gülüm. Die ersten Ziele würden Frauen und Mitglieder der LGBT+ Gruppierungen sein, vermutet die HDP-Politikerin.
Ausbildung dauert nur 41 Tage
Die besondere Eile des Staatspräsidenten Erdoğan bei der Aufnahme von neuen Wächtern ist ein weiteres Diskussionsthema in dieser Angelegenheit. Die Wächter werden bereits nach einer Ausbildungsdauer von 41 Tagen mit Waffen ausgestattet. Zwar wird derzeit auch darüber diskutiert, diese Ausbildungsdauer auf fünf Monate zu erhöhen, doch selbst diese Dauer ist für eine Ausstattung mit Waffen zu kurz und könnte andere Probleme mit sich bringen.
Eines dieser Probleme wäre Folter. Aktuell besteht die Gefahr, dass die Türkei in Sachen Folter von den Vereinten Nationen unter Beobachtung gestellt wird. Denn vor allem in den letzten vier Jahren ist die Folter gegenüber Kurden und Anhängern der Gülen-Bewegung angestiegen.
In den sozialen Medien tauchen immer mehr Videos auf, auf denen Wächter zu sehen sind, die Gewalt gegen Bürger anwenden. So auch in der türkischen Stadt Malatya, wo ein Wächter bei dem Versuch eine betrunkene Person zu stoppen, einen anderen Wächter mit einem Schuss in den Kopf traf und verletzt hat.
Trotz dieser Gefahr hält Erdoğan daran fest, die Zahl der Wächter zu erhöhen. 10.000 neue Wächter sollen demnächst eingestellt werden. Besonders kurios ist auch, dass das Einstiegsgehalt bei Wächtern um etwa 25 Prozent höher ausfallen soll, als das Einstiegsgehalt eines Lehrers. Diese Kuriositäten zeigen, wie sehr die Regierung von Erdoğan daran interessiert ist, mithilfe der Wächter die Straßen zu kontrollieren.