Wir veröffentlichen hier einen Brief des Journalisten Zafer Özcan an seine Tochter Ebrar. Darin bitter er sie auf den Balkon zu gehen und für ihn in den Himmel zu schauen. Den Brief hat die Tochter des Journalisten auf ihrem Blog veröffentlicht:
Meine geliebte Tochter,
ich bin schon den zweiten Ramadan an diesem Ort. Als ich den vergangenen Ramadan hier verbracht habe, hätte ich mir nicht träumen lassen ein zweites auch hier zu verbringen. Wenn ich jetzt schreibe, kommt mir das vergangene Jahr sehr entfernt vor. Entweder ist das das Ergebnis der Gefängnispsychologie oder es ist einfach so. Man kann sich das Leben hier und seine Fortsetzung vorstellen. „Ich werde hier nicht lange bleiben,“ ist die hersschende Erwartung hier.
Deswegen kommt das kommende Jahr immer als sehr fern vor. Danach erreichen uns das, was wir als sehr fern angesehen haben. Dieses Treffen gibt einem zunächst ein schlechtes Gefühl, aber wir können nicht leugnen, das was man hier erlebt auch einen stark macht. Wenn man Dinge durchlebt, die man eigentlich nicht wollte, fühlt man sich selbstbewusster. Das sind schon seltsame Zeiten, nicht wahr Ebrar? Ich frage mich manchmal selber, „mussten wir so viel schlechtes so viele Katastrophen hintereinander erleben?“ Unsere Lebensbedingungen waren hier schon schwierig genug und jetzt müssen wir auch noch mit dem Coronavirus kämpfen. Unser ohnehin eingeschränktes Leben besteht jetzt nur noch aus Entbehrungen. Hatten wir uns noch über 40 Minuten Besuchszeit pro Woche beschwert, wurde uns jetzt auch das weggenommen. Dennoch denke ich, dass wir trotz aller Widrigkeiten wenigstens über diese Probleme sprechen können. Der Herr soll uns vor allem schützen, womit wir nicht fertig werden können. Der Gedanke, es gibt schlimmeres schützt mich davor mich zu beschweren.
Ich möchte noch dir von meinen anderen Gedanken erzählen, die mich in letzter Zeit heimgesucht haben. Ja, jemand wird darüber entscheiden, ob ich in Zukunft gefangen oder frei sein werde. Was ich fühle ist die Aufregung eines Tages mit euch wieder zusammenzusein und auf der anderen Seite der Gedanke, dass ich möglicherweise doch mein Leben hier weiterführen werde. In letzter Zeit sind diese Gedanken aufgetaucht. Ich glaube, ich habe diese Gedanken weil ich nie wieder so schreiben werden kann, wie vorher.
Jeden Abend bete ich irgendwann wieder mit euch zusammensein zu können. Das und andere Gedanken beruhigen mich. Ich hoffe im Sommer meinen dritten Roman fertigzuschreiben. Inzwischen kann ich auch wieder etwas tun, was ich mir seit langem gewünscht habe: Jeden Tag weiterzuschreiben. Das war sehr wichtig für mich. Viele berühmte Schriftsteller hatten das schon gesagt, ununterbrochen schreiben. Derzeit bin ich an diesem Punkt und das beeinflusst mich positiv. Deswegen bin ich wie in dem Lied von Candan noch stärker und noch entspannter. Ich wünsche mir, dass ihr euch auch so fühlt.
In deinem Brief hast du mir das Gedicht von Nazım geschickt und mich gebeten, ich solle den Teil schreiben, der mir am meisten gefallen hat. „und sofort, von meinem Platz aufgesprungen, zu den Gittern an meinen Fenstern, zu der weißblauen Freiheit, wir ich dir zurufen, was ich geschrieben habe.“ Das ist genau der Teil. Ich wünschte, ich könnte jetzt mit dir stundenlang über die Dinge reden, die ich geschrieben habe.
Hier stehe ich und beobachte das Blau im Himmel, während ich die Gittern an meinen Fenstern festhalte. Das Obergeschoss unserer Zelle verspricht viel mehr als eine Handvoll Himmel, was ich vom Gefängnishof sehe. Ich kann noch mehr Himmel sehen. Am meisten mag ich den weiß-blauen Himmel, wenn er bewölkt ist. Wenn der Himmel bewölkt is, wirkt auf mich näher und bezaubernder. Manchmal schaue ich mir von diesem vergitterten Fenster die Wolken an, die wegfließen. Ich wünsche mir, dass sie mich dahin bringen, wohin sie hingehen. Die Freiheit und Unendlichkeit dieser Wolken motivieren mich und führen zu Gedanken bei mir.
Wenn du diese Zeilen liest geh auf den Balkon unseres Hauses und schau dir lange die weißblauen Himmel an. Dort wirst du meine Gedanken entdecken. Wenn du sie nicht siehst, wirst du sie spüren.