Über drei Millionen syrische Flüchtlinge leben in der Türkei unter schwersten Bedingungen. Es gibt aber Bürger in dem Land, die weniger Rechte haben als diese Flüchtlinge. Es sind die per Dekret vom Staatsdienst entlassenen Opfer des Erdoğan-Regimes.
Diese Personen bekommen hinter ihren Sozialversicherungsnummern einen Vermerk. Mit diesen Nummern können sämtliche Arbeitgeber erkennen, zu welcher isolierten Gruppe diese Menschen gehören. Sie können nicht mehr in den Staatsdienst zurückkehren. Ihnen wird kein Ausweis ausgestellt. Banken vergeben ihnen keine Kredite. Ihnen werden sogar einfache Konten verweigert. Tausende von ihnen sind heute noch im Gefängnis. Sie haben alle hohe akademische Abschlüsse.
Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 in der Türkei wurde zunächst der Ausnahmezustand ausgerufen. Anschließend gab es zahlreiche Dekrete. Die türkische Kurzform dafür lautet “KHK” (Kanun Hükmünde Kararname). Mit diesen Dekreten wurden Tausende von ihrem staatlichen Dienst entlassen. Für viele Menschen ist das Schicksal durch diesen Kürzel “KHK” besiegelt worden – im negativen Sinne. Sie sind von Freunden, Familie und vom Berufsleben vollständig isoliert. Heute bezeichnen sich die Opfer der Dekrete als die “KHK´ler” (KHK´lı).
Rund 150 Tausend Personen hat man von ihren Berufen entlassen. Eine Vielzahl von ihnen hat Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Die restlichen gehören überwiegend zu kurdischen und linken Gruppierungen. Diese Maßnahmen verteidigt die türkische Regierung mit einem Vergleich zu der Zeit nach dem Mauerfall in Berlin. Ibrahim Kalın, der Sprecher des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, sagte zu diesem Anlass, dass 500 Tausend Staatsbeamte in Ostdeutschland entlassen wurden. Doch dabei lässt Kalın außer Acht, dass diese Personen mit Abfindungszahlungen entschädigt wurden und durch den Sozialstaat aufgefangen wurden. Sie sind nicht isoliert und im Stich gelassen worden. In der Türkei wird die “Green Card”, ein Gesundheits- und Sozialleistungsausweis, den “KHK`lern” verweigert.
Probleme beim Geldabheben
Suzan Uzpak gehört zu diesen per Dekret entlassenen Opfern des Erdoğan-Regimes. Ihr Bruder hat ihr über die türkische Vakıfbank aus dem Ausland Geld überwiesen. Doch ein Bankmitarbeiter habe ihr das Geld nicht ausgezahlt. Der Grund sei, dass sie per Dekret entlassen worden ist. Laut Mitarbeiter dieser Bank habe das System “gesperrt” angezeigt. Das sei auch schon in der Vergangenheit vorgekommen. An per Dekret entlassene würden keine Gelder ausgezahlt werden.
Ein anderer “KHK`ler” verkündete via Twitter, dass die Garanti Bank das Eröffnen eines Kontos verweigere. Nach öffentlichem Druck musste die Garanti Bank einlenken. Doch in einem Schreiben ließ die Bank wissen, dass man “nur ein Konto eröffne, aber Kredite, elektronische Überweisungen und Online-Banking nicht gestattet werden”. Die Garanti Bank gehört der spanischen Bank BBVA. Es bleibt weiterhin fraglich, ob die Bank eines Staates der Europäischen Union diese Praktiken auch in Europa durchführt.
Versicherung greift nicht
Ein weiterer “KHK´ler”, der nicht namentlich genannt werden will, kann einen noch schlimmeren Fall vorweisen. Seine Frau hatte ein Autounfall. Eigentlich hätte die Versicherung für die Schäden aufkommen müssen. Doch das tat sie nicht. Als Begründung gab man an, dass das in den Unfall verwickelte Auto auf einen “KHK´ler” zugelassen ist.
Diese Vorgehensweise hat ihren Ursprung im Bankenaufsichtssystem, dass den Bankinstitutionen ein Schreiben zugeschickt haben soll, in dem diese aufgefordert werden, den “KHK´lern” keine Kredite zu genehmigen.
Keine Rechte auf finanzielle Unterstützung
Ein Großteil der “KHK´ler” sind gut ausgebildete Akademiker, viele von ihnen sind Lehrer. Durch die Codes und Vermerke in den Sozialversicherungsdaten finden viele dieser “KHK´ler” keinen Job. Der Lehrer Cemil Özen ist einer davon. Aufgrund seiner schlechten finanziellen Situation hat er die sogenannte “Grüne Karte”, die in der Türkei finanziell schwache Menschen beziehen, beantragt. Doch wegen seinem Status als “KHK´ler” wurde ihm die Karte verwehrt.
Özen verzweifelt, “Flüchtlinge in unserem Land können zu Ärzten gehen und sich behandeln lassen. Das ist gut so und soll fortgesetzt werden. Doch wir sind Bürger dieses Staates und wir haben nicht Mal so viele Rechte wie Flüchtlinge. Wir können vom Gesundheitswesen unseres Staates nicht profitieren”.
“KHK´ler sind quasi Tote”
Die von den Dekreten betroffenen können aufgrund der Ausreisesperren auch nicht ins Ausland. Mit ihren Erfahrungen und Ausbildungen hätten viele von ihnen aber die Gelegenheit im Ausland zu arbeiten. Eine davon ist Seher Kılıç. Seher Kılıç wurde vor drei Jahren ihr Reisepass eingezogen. “Ich habe eine Anfrage gestellt, um zu erfahren, weshalb ich mein Reisepass nicht zurückbekomme. In der Antwort stand, dass hinter meiner Ausweisnummer ein Vermerk hinterlegt sei, in dem ´bedenklich, kein Ausweis ausstellen´ stehe”, erklärt Kılıç. Selbst ihre Kreditkare sei gesperrt worden und sie erhalte auch keine neue. “Meine Familie im Ausland versucht mir Geld zu überweisen. Selbst dabei bekomme ich Probleme”, schildert Kılıç weiter.
Mehmet Alkan kennt diese Schwierigkeiten. Der Jurist wurde von seinem Dienst bei der türkischen Armee entlassen. Sein Anwaltsschein sei gekänzelt worden, weshalb er gerade nicht arbeiten kann. Alkan dazu: “Wenn Sie ein “KHK´ler” sind, sind Sie eigentlich ein Toter. Sie haben gar keine Rechte.”
Geheime Vermerke treiben Menschen in den Tod
Ein wichtiger Grund, warum zehntausende Lehrer, Ärzte, Polizisten oder Ingenieure keinen Job in der privaten Branche finden können, ist dieser Vermerk. Markiert hinter den Sozialversicherungsnummern. In dem Vermerk heißt es übersetzt “bedenklich”. Er wird dann sogar nach Berufsgruppen unterschieden. So bekommen Menschen, die ehemals im öffentlichen Dienst gearbeitet haben, einen anderen Vermerk, als jene, die als Lehrer oder Journalisten gearbeitet haben. Menschen, die in Einrichtungen gearbeitet haben, die durch den präsidialen Erlass geschlossen oder übernommen worden sind, haben einen anderen Vermerk.
Arbeitgeber fürchten diese Vermerke. Sie wollen so gebrandmarkte Personen nicht einstellen, um unnötige Kopfschmerzen zu vermeiden.
Das führt diese hoch ausgebildeten Menschen in eine Zwickmühle. Sie finden weder Arbeit, noch können sie aufgrund der Reisesperre das Land verlassen. Einige sind aufgrund dieser Ausweglosigkeit ins Ausland auf illegalem Wege geflohen. Teilweise sind Menschen bei diesem Versuch sogar ums Leben gekommen. Ein Beispiel ist die Familie Abdurrezzak. Uğur und Ayşe Abdurrezzak waren beide als Lehrer tätig. Wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung wurden sie entlassen. Auf der Flucht über den Evros an der türkisch-griechischen Grenze ist ihr Boot gekentert. Mit dabei waren ihre drei und elfjährigen Kinder. Alle Familienmitglieder kamen ums Leben.
Heute versuchen Menschen, die durch die präsidialen Erlasse entlassen wurden, über den Youtube-Kanal “KHKTV” ihre schwierige Situation der Öffentlichkeit mitzuteilen. Die von ihnen organisierten Veranstaltungen werden aber immer wieder verhindert. Die staatlichen Behörden üben weiterhin Druck auf diese Menschen aus. Das Drama der “KHK´ler” setzt sich fort.